ÜBERSICHT
1. Koran-Interpretation, islamische Theologie und Philosophie2. Sufismus
3. Traditionalistische Einflüsse im Mittelalter
4. Neuzeitliche Strömungen zwischen Reform und Restauration
5. Weiterführendes Material, Literatur, Internetzugänge
1. Koran-Interpration,
islamische Theologie und Philosophie

Vgl. den übersichtlichen Beitrag zu Sunna und Schia in SZ online16.06.2015: Was Schiiten und Sunniten trennt
Seit dem 8. Jahrhundert verstärkten sich wichtige Entwicklungen der islamischen Kulturgeschichte. Die (sunnitischen) Abbasiden übernahmen von den Umayyaden die Macht. Nach Damaskus wurde Bagdad Hauptstadt der muslimischen Welt und bildet bis zu seiner Zerstörung durch die Mongolen im Jahre 1258 das weltlich-kulturelle Zentrum der östlichen islamischen Hemisphäre. Gleichzeitig werden durch die arabische Eroberung des größten Teils der Iberischen Halbinsel seit 711 Granada, Córdoba, Sevilla und Toledo zu Zentren islamischen Geisteslebens. Künste und Wissenschaften, Jurisprudenz und Philologie, Theologie und Philosophie entwickeln sich zu nie dagewesener Blüte. An den islamischen Universitäten wurden die griechischen und lateinischen Philosophen und besonders Plato und Aristoteles übersetzt und kommentiert. Diese arabischen Übersetzungen und Kommentare bilden die Voraussetzung für die Übernahme der griechisch-lateinischen Denktradition in das christliche Europa.
In diese Zeit fiel jedoch auch die Systematisierung des Islams als Gesetzesreligion. Die Gründer der vier orthodoxen Rechtsschulen, Abu Hanifa (Hanafiten), Malik ibn Anas (Malikiten), Mohammed ibn Idriss as-Schafii(Schafiiten) Ahmad ibn Hanbal (Hanbaliten)behandelten eingehend jede, das weltliche und geistige Leben betreffende Frage. Die auf dem Koran und der Prophetentradition – der sogenannten Sunna– gründende ethische und rechtliche Orientierung unter dem Rahmen der Scharia bremste die neuen Entwicklungen teilweise aus, obwohl nach weitgehendem islamischen Verständnis die Idjtihad( = das Tor der Auslegung) immer offen ist, also eine verstandesgemäße aktualisierende Auslegung möglich bleibt.
Besonders die Auseinandersetzung mit der rationalistischen Glaubensschule der Mutaziliten(auch: Mu’taziliten, Mutasiliten oder Mutalisiten – von arab. mu'tafil, Separatist; die Zurückgezogener), führte schließlich dazu, dass etwa vom 12./13. Jahrhundert an kaum noch neue Ideen zum Zuge kammen, weil die Theologen in ihrer Jurisdiktionsfunktion die freie Forschung mehr und mehr einschränkten. Im Rahmen einer mehr spekulativen Theologie (kalam) setzten sie wie auch der zentralasiatische Aristoteles-Spezialist und Musikwissenschaftler al-Farabi (870–950) setzte als oberste Instanz das Verstehen ein. Die Auseinandersetzung des Mediziners, Philosophen und Mystikers Ibn Sina (latinisiert = Avicenna, 980–1037) mit dem berühmten spanischen Arzt und Philosophen Ibn Rushd (latinisiert = Averroës,1126–1198) und umgekehrt bezog sich auf die Übernahme der hellenistischen Philosophie und einer daraus zu entwickelnden Koran-Hermeneutik mit den dazugehörigen Evidenz-Kriterien. Die Philosophie des Averroës beeinflusste die gesamte mittelalterliche christliche Theologie, bis der Averroismus auf dem 5. Laterankonzil 1513 unter Papst Leo X. kirchenamtlich verboten wurde.
2. Sufismus

In dieser Weise wirkten u.a. Mansur al-Halladsch[Hallaj] (857–922), der in Bagdad wegen seiner Vorstellung von der im Menschen wirkenden Gottesliebe hingerichtet wurde. In Spanien und Nordafrika war es u.a. Ibn al-Arabi (1165-1241), der ins Exil gehen musste (s.u.). Die Mystiker, besonders unter dem Einfluss von Fariduddin Attar (1126–ca. 1230) und Djelaleddin Rumi [Dschalal ad-Din ar-Rumi] (1207–1273) sahen letztlich in dieser korrelativ geprägten Liebesbeziehung Gott-Mensch-Gott eine Gleichwertigkeit aller Religionen.
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Hg.: Lutherisches Kirchenamt der VELKD und Kirchenamt der EKD (Hg.)
1. Der Weg der Liebe zu Gott
- Die verschiedenen Sufi-Orden (Wikipedia-Liste)
- Alawiyya - AISA --- Gründer:Ahmad al-Alawi
- Vielfalt des Islam - Traditionen und Entwicklungen
- Sufismus: Vielfalt des Islam - Traditionen und Entwicklungen (Kap. 10-11)
- Annemarie Schimmel:Mystische Dimensionen des Islam.
Die Geschichte des Sufismus.
Köln: Diederichs 1985, 1992, 2. Aufl., 734 S., Indices - Beispiel eines berühmten Sufis: Ibn Arabi von Murcia
Claude Addas: Ibn Arabî et le voyage sans retour.
Seuil: Paris 1996 --- als Taschenbuch: Sagesses 114, Dez. 2015, 140 p.
--- Verlagsinformation: hier
Der Orientalist Claude Addas stellt hier eine besondere äußere und innere-mystische Reise vor. Es ist eine Darstellung des berühmten Sufi Ibn Arabî von Murcia (1165-1240). Dessen Weg führte von Spanien nach Nordafrika nach Mekka, nach Anatolien und schließlich nach Syrien. Geprägt von den mystischen Meistern Andalusiens gibt es auch innere Begegnungen mit dem Göttlichen, mit dem Propheten Mohammed und mit Jesus. Vgl. auch die ausführliche Darstellung unter dem Titel "Die Suche nach dem roten Schwefel": Ibn 'Arabî ou La quête du Soufre Rouge. Paris: Gallimard 1989
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Eine Einführung in den Sufismus
aus:Was jeder vom Islam wissen muss. Gütersloh. GTB 788, 1996, 5. verbesserte Aufl., S.81-87 (leicht aktualisiert), Hg.: Lutherisches Kirchenamt der VELKD und Kirchenamt der EKD (Hg.)
1. Der Weg der Liebe zu Gott
Etwa 150 Jahre nach dem Tod Mohammeds erregte eine schlicht gekleidete Frau in Basra, einer Hafenstadt des Irak, Aufsehen. Sie lief mit einer brennenden Fackel in der einen und einem Eimer voll Wasser in der anderen Hand durch die Gassen der Stadt: »Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet.«(1)
Rabi'a al-Adawiya (gest. 801) wurde als »zweite Maria«, als »Heilige« (waliya)angesehen. Sie gehörte zu den Sufis, die sich in Wolle (suf) kleiden und nach Reinheit (safa ) vor Gott streben.
Vorher hatte nicht Liebe, sondern Furcht vor Gott und dem letzten Gericht Asketen wie Hasan al-Basri (gest. 728) und seine Schüler bestimmt. Sie protestierten – wie die christlichen Wüstenmönche – gegen eine auf Luxus und Äußerlichkeiten ausgerichtete Gesellschaft und riefen die Menschen zur Umkehr zu Gott. Durch Rabi'a, die ehemalige Sklavin, erhielt diese Bewegung eine tiefere Dimension: Wer wahrhaft glaubt, liebt Gott. Nur wer Gott liebt, kann seine Nähe erfahren; denn der Liebende zielt in allem, was er tut und denkt, auf den Geliebten - auf Gott, um mit ihm eins zu werden wie ein Wassertropfen im Meer.
Das Sufitum ist die islamische Form der Mystik, der es um die Verinnerlichung des Glaubens geht. Es versteht sich als unmittelbare »Botschaft des Herzens«. Der Mystiker sieht sein ganzes Leben als Weg (tariqa) zur Einheit mit Gott.
2. Der Weg- im Koran und bei Mohammed
Die Mystiker finden ihren Weg schon im Koran vorgegeben, etwa in der Aufforderung, dass man sich von denen abwenden soll, die nicht an Gott und seine Weisung denken (Sure 53,29). Für die Sufis sind Worte wie »Gedenkt unablässig Gottes« (Sure 62,10) und »Gott liebt, die das Gute tun« (al-muhsinun - vgl. Sure 5,93) zu Richtworten für den Weg geworden, an dessen Ende das Erleben der Wahrheit Gottes steht. Wer diesen Weg geht, erhält durch Gott Zeichen, die nur die Gläubigen verstehen (Sure 51,20).
Die Mystiker meinen, bereits bei Mohammed Hinweise für ihren Weg zu finden. So habe zum engsten Kreis des Propheten auch der Perser Salman gehört, der von vorislamischen mystischen Strömungen im Iran geprägt war. Sie weisen auch darauf hin, dass Mohammed während der Hidschra in den gefährlichsten Stunden der Flucht nach Medina Abu Bakr, den späteren ersten Kalifen, in einer Höhle das Gottes-Gedenken (dhikr) gelehrt habe.
Vor allem aber seien Mohammed selbst in der Nacht der Entrückung nach Jerusalem (isra`, Sure 17,1) und dann in den Himmel (miradsch)wunderbare Erlebnisse zuteil geworden, bis hin zur Schau des Schleiers, der Gottes Geheimnisse verhüllt. Deshalb habe er in einer Sprache der Erfahrung und Liebe Weisungen weitergegeben und von einer Erneuerung des Urbundes aller Seelen mit Gott (Sure 7,172) gesprochen. Der Sufi erkennt in Mohammed den durch keine menschliche Lehre irregeleiteten, von Gott her bestimmten »vollkommenen Menschen«, einen »Freund Gottes«, der auf dem rechten Pfad zu Gott sei. Darum legt jeder Ordensgründer und Führer unter den Sufi Wert darauf, dass er mit seinem je besonderen Weg in der Tradition Mohammeds steht.
3. Märtyrer und Lehrer
Die Sufis versuchten, den tieferen, verborgenen Sinn der Worte des Koran zu ergründen und die äußerlich erscheinenden Lebensregeln zu verinnerlichen. Damit kamen sie der Sehnsucht vieler entgegen. So gelangten manche zu großem Ansehen, andere dagegen hatten unter Hass und Feindschaft zu leiden.
Husain ibn Mansur al-Halladschz. B. starb 922 in Bagdad am Kreuz - und wurde für die Mystiker zum »Märtyrer der Gottesliebe«. Während der Sklavenaufstände im Irak aufgewachsen, ließ ihn die Frage nach Gott nicht los. Ihm wurde zunächst deutlich: Die göttliche Wahrheit »verhüllt sich vor Enthüllung und ist zu heilig, um mit dem Auge geschaut zu werden«. Später jedoch bezeugte er: »Ich sah meinen Herrn mit des Herzens Auge und sagte: >Wer bist Du?( ER antwortete: >Du<.« In Ekstase rief er aus: »Ana I-Haqq– Ich bin die Wahrheit.« Seine Gegner übersetzten freilich: »Ich bin der Wahre
(= Gott)«.(6) Sie warfen ihm vor, die Grenzen zwischen Gott und den Menschen überschritten zu haben. Als al-Halladsch sein Bekenntnis dann noch mit sozialen Forderungen verband, kostete ihn dies das Leben.
(= Gott)«.(6) Sie warfen ihm vor, die Grenzen zwischen Gott und den Menschen überschritten zu haben. Als al-Halladsch sein Bekenntnis dann noch mit sozialen Forderungen verband, kostete ihn dies das Leben.
Ganz anders erging es Abu Hamid Muhammad al-Ghazzali [Ghazali] (1058-1111). Während sich das Abendland zum Kreuzzug rüstete, gab er eine glänzende Gelehrtenkarriere in Bagdad auf. Er wurde Wander-Sufi, Derwisch. Ihm waren die Grenzen des logischen Denkens deutlich geworden. Aber selbst als Mystiker vermochte er in der Ekstase nicht wirklich mit Gott zu verschmelzen. In aller liebenden Annäherung musste er sich den Ordnungen Gottes unterwerfen. AI-Ghazzali wurde zu einem der größten Lehrer des sunnitischen Islam. Seine Schriften sind bis heute richtungweisend. Aufgrund der Weite seines Denkens, auch seiner Toleranz Juden und Christen gegenüber, wirkte er weit über das »Haus des Islam« hinaus. Thomas von Aquin studierte seine Schriften ebenso wie der christliche Mystiker Meister Eckehart. Al-Ghazzali starb mit den Worten: »Ich höre und gehorche: auf zum Eintritt beim König«.(7)
4. Die Ordensgemeinschaften
Mit der Gründung des Qadiriyya-Ordens im Jahr 1135 begann für die mystische Bewegung eine neue Phase. Immer mehr Schülergruppen schlossen sich um geachtete Sufi-Meister zu Bruderschaften und festen Orden zusammen. »Klöster« (tekke und zawiyya) sind im Islam geistliche und geistige Zentren, in denen neu Hinzukommende durch oft monatelange Schulungen geführt werden, aufgenommene Mitglieder Zuflucht finden und immer wieder zu Gemeinschaftstagen zusammenkommen. Asketisches Klosterleben und Zölibat sind dem Islam fremd; die Mitglieder der Orden sollen sich vielmehr im Alltagsleben als Vorbilder für alle bewähren. Heute sind diese mystischen Gemeinschaften aus dem Leben der islamischen Länder nicht mehr fortzudenken. Die Hauptorden haben Niederlassungen von Indonesien bis Marokko, andere sind regional begrenzt.
Im Leben der Orden sind neben den Ordensgründern auch ihre Nachfolger, Scheichoder Pir genannt, und deren Beauftragte (Kalifen) von größter Wichtigkeit. Nicht nur die Anfänger sind ihnen gegenüber »Schüler« (murid), sondern alle Mitglieder. Im unbedingten Gehorsam gibt der Schüler sein eigenes Sein nacheinander in das des Scheichs, dann des Ordensgründers, dann Mohammeds hinein auf, um sich schließlich in Gott »zu verlieren« (fana). Ein rechter geistlicher Meister bindet seine Nachfolger jedoch nicht an sich selbst. Er ist kein Mittler zwischen seinem Schüler und Gott, sondern nur Mitwanderer auf dem gemeinsamen Weg - wenn auch um einige Schritte voraus. Der Meister will seine Schüler von der Liebe zur Welt befreien und aus aller Arroganz lösen. Alle Scheinheiligkeit und alle Geltungssucht sollen ebenso überwunden werden wie Neid und Zorn, Sinnlichkeit und Gier nach materiellen Dingen und weltlicher Anerkennung. Nur so kann in den Herzen die Sehnsucht wachsen, ganz in Gott aufzugehen. Dazu müssen die in die Welt hinein verästelten Wurzeln der eigenen Seele (nafs al-amara[8] im Kampf gegen sich selbst ausgerissen werden. Dies ist der Dschihad akbar, der »größere Krieg« (Anstrengung).
5. Das ständige Gedenken an Gott (dhikr)
Die Kraftquelle auf dem mystischen Weg ist das ständige Gedenken an Gott.
a) Jeder Muslim übt es im rituellen Gebet. Aber der Mystiker geht über die reine Pflichterfüllung hinaus (Sure 29,45). Dhikr soll sein ganzes Leben umfassen. Im Gedenken und Zelebrieren des Namens Gottes (Sure 76,25; 73,8) stimmt der Liebende in den für Menschen unhörbaren Lobgesang und das Gottes-Gedenken der gesamten irdischen und himmlischen Schöpfung mit ein. Dies geschieht bereits dann, wenn der Beter nach dem Pflichtgebet mit Hilfe der Misbaha, des »Rosenkranzes« (türkisch: tesbih), die Kurzsätze des Gotteslobes der Zahl der Perlen entsprechend 33 Mal rezitiert: »subhanahu llah - Gepriesen sei Gott«, »al-hamdu li-llah - Lob sei Gott«, »Allahuakbar - Gott ist grösser«; oder wenn er sich die 99 Namen Gottes vergegenwärtigt. Wird in dieses Denken an Gott darüber hinaus das Bekenntnis eingeschlossen: »la ilaha illa llah– es gibt keine Gottheit ausser Gott«, dann steht dies unter der Verheissung: Wenn sieben Himmel und ihre Bewohner und sieben Erden in eine Waagschale gelegt werden und dieser Satz in die andere, wiegen im Gericht diese Worte noch schwerer.
b) Viele Muslime führen das Dhikr als »stilles Dhikr« (dikr khafi) durch. Unbemerkt von ihrer Umgebung konzentrieren sie sich mitten im Alltag auf das Gott-Gedenken, damit sie in ihrem gesamten Tun auf Gott ausgerichtet handeln. Dies sei das wesentliche Dhikr, sagen sie.
a) Jeder Muslim übt es im rituellen Gebet. Aber der Mystiker geht über die reine Pflichterfüllung hinaus (Sure 29,45). Dhikr soll sein ganzes Leben umfassen. Im Gedenken und Zelebrieren des Namens Gottes (Sure 76,25; 73,8) stimmt der Liebende in den für Menschen unhörbaren Lobgesang und das Gottes-Gedenken der gesamten irdischen und himmlischen Schöpfung mit ein. Dies geschieht bereits dann, wenn der Beter nach dem Pflichtgebet mit Hilfe der Misbaha, des »Rosenkranzes« (türkisch: tesbih), die Kurzsätze des Gotteslobes der Zahl der Perlen entsprechend 33 Mal rezitiert: »subhanahu llah - Gepriesen sei Gott«, »al-hamdu li-llah - Lob sei Gott«, »Allahuakbar - Gott ist grösser«; oder wenn er sich die 99 Namen Gottes vergegenwärtigt. Wird in dieses Denken an Gott darüber hinaus das Bekenntnis eingeschlossen: »la ilaha illa llah– es gibt keine Gottheit ausser Gott«, dann steht dies unter der Verheissung: Wenn sieben Himmel und ihre Bewohner und sieben Erden in eine Waagschale gelegt werden und dieser Satz in die andere, wiegen im Gericht diese Worte noch schwerer.
b) Viele Muslime führen das Dhikr als »stilles Dhikr« (dikr khafi) durch. Unbemerkt von ihrer Umgebung konzentrieren sie sich mitten im Alltag auf das Gott-Gedenken, damit sie in ihrem gesamten Tun auf Gott ausgerichtet handeln. Dies sei das wesentliche Dhikr, sagen sie.
c) Darüber hinaus kennen die Sufi-Gemeinschaften regelmäßig wiederkehrende Versammlungen eines gemeinsamen Dhikr, oft im Anschluss an eines der Pflichtgebete. Trotz der verschiedenen Traditionen und Techniken gibt es dabei wiederkehrende Hauptmomente:
--- Ilahi-Gesänge, Preislieder auf Gott und den Propheten Mohammed als Überbringer des göttlichen Lichts, aber auch mit Nennung aller Propheten, der Engel, der Heiligen und der Lehrer; Koran-Rezitationen, meist von Kernstellen wie dem Licht- oder Thronvers (Sure 24,35-40 und 2,255);
--- unzählige Wiederholungen eines der Namen Gottes oder auch des ersten Satzes des Glaubensbekenntnisses. Der Scheich bestimmt die zu zitierenden Namen ebenso wie das Tempo und die Rhythmik des Sprechens und Atmens. Diese sich ständig steigernde Atemweise führt schliesslich zum Erlebnis der Hingabe, in der alles Bewusstsein ausgeschaltet wird. Dabei wird etwa die erste Silbe des Gottesnamens Allah beim Einatmen, die zweite beim langgezogenen Ausatmen rezitiert. Oft werden auch andere Namen gebraucht: al-Rahman und al-Rahim (der Barmherzige und Erbarmer), al-Hayy (der Lebendige), al-Qayyam(der-In-sich-selbst-Existierende) Rabb(Herr), Ahad (der Einzige) oder auch der Bekenntnissatz »Allah hu– Gott ist ER«, der eigentlich Unaussagbare und Allumfassende, in dem das Ich des Menschen sein Ziel und Ende findet.
d) Ob ein Dhikr sitzend, stehend oder gar tanzend durchgeführt wird, hängt von der Überlieferung des jeweiligen Ordens ab. Dabei wird jeder Bewegung ein tieferer Sinn gegeben. Die Derwische des Sufi-Meisters Mevlana Dschellaleddin Rumi aus Konya (gest. 1272) etwa werfen ihre schwarzen Umhänge als Zeichen der Last und Finsternis der Welt fort, um dann ihren Reigentanz in weißen Gewändern als Symbol der himmlischen Welt durchzuführen. Dabei drehen sie sich um sich selbst so wie Schmetterlinge um die Sonne oder in der Gruppe um ein freibleibendes Zentrum so wie Himmel und Erde um den Schöpfer.
d) Ob ein Dhikr sitzend, stehend oder gar tanzend durchgeführt wird, hängt von der Überlieferung des jeweiligen Ordens ab. Dabei wird jeder Bewegung ein tieferer Sinn gegeben. Die Derwische des Sufi-Meisters Mevlana Dschellaleddin Rumi aus Konya (gest. 1272) etwa werfen ihre schwarzen Umhänge als Zeichen der Last und Finsternis der Welt fort, um dann ihren Reigentanz in weißen Gewändern als Symbol der himmlischen Welt durchzuführen. Dabei drehen sie sich um sich selbst so wie Schmetterlinge um die Sonne oder in der Gruppe um ein freibleibendes Zentrum so wie Himmel und Erde um den Schöpfer.
Anmerkungen
1. Zitiert nach: A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln 1985, S. 66.
6. Vgl. hierzu: a. a. O., S. XX uz.
7. Al Ghasali (Al-Ghazali), Das Elixier der Glückseligkeit, Köln 1984, S. 21
8. Der Begriff nafs al-amara kann nur umschrieben werden: Er meint: die den Begierden und dem Bösen zugeneigte Seele des Menschen, die sich von Gott lossagt und sich selbst zur Richtschnur macht. (Siehe Sure 12,53).
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3. Traditionalistische Einflüsse im Mittelalter
Die spirituelle Vertiefung im Sufismus und der konsequente Vernunftgebrauch in der rationalistisch geprägten Theologie war vielen orthodoxen Rechtsgelehrten zunehmend ein Ärgernis. Sie wurden zunehmend des kufr ( = Unglauben) angeklagt. Denn zahlreiche Sufi-Meister und theologisch-philosophische Lehrer an den islamischen Universitäten, aber auch einfache Wanderderwische, verbreiteten ihre revolutionär anmutenden Ideen von der Gleichheit aller Menschen mit einem aufgeklärten dialogischen Koranverständnis. Die Folge war, dass eine Reihe der philosophischen Rationalisten wie der Sufi-Lehrer entweder von islamischen Herrschern verbannt, eingekerkert oder gar hingerichtet wurden.
Eine besonders problematische Rolle spielt dabei Ibn Taimiya, (1263–1328), dessen Fatwas (theologische und juristische Gutachten) die idjtihad faktisch zu verschließen versuchten. Das Ergebnis war, dass seit dem 13. Jahrhundert die islamische Theologie praktisch keine Veränderungen mehr erfuhr und sich teilweise fundamentalistisch verhärtete.
4. Neuzeitliche Bewegungen
zwischen Reform und Restauration
zwischen Reform und Restauration
In der Folge des europäischen Kolonialismus und dem Niedergang des Osmanischen Reiches wurden die hegemonialen Konflikte auf dem Rücken der islamisch geprägten Regionen ausgetragen. Ende des 19. Jahrhunderts empfanden viele islamische Intellektuelle die Überheblichkeit, die europäische Orientbild prägte als herabwürdigend. Im Sinne westlichen Fortschrittsdenkens betrachteten Islam mit moderner Zivilisation und Wissenschaft als unvereinbar. Dagegen entwickelte sich auf der Südseite des Mittelmeeres eine aus dem islam kommende Reformbewegung, die besonders durch Jamâl ad-Dîn al-Afghânî, Muhammad Abduh, Rashîd Ridâ und Abd ar-Rahmân al-Kawâkibî (1854-1902) geprägt wurde. Sie versuchten ein erstarrtes Islamverständnis im Sinne einer vernunftgemäßen auf die veränderte Zeit bezogenen Auslegung von Koran und Sunna im Sinne des Idjtihad, einer offenen Interpretation, zu verändern. Sie schlossen sich damit an die Reformbestrebungen im Mittelalter an. Das bedeutete zugleich, an die die wahrhaften Ursprünge des Islam anzuknüpfen und damit auch die islamische Rechtsprechung zu aktualisieren. Der hier aufbrechende Grundkonflikt trat in seiner Schärfe erst nach der Unabhängigkeit der meisten islamischen Länder von der Kolonialherrschaft zutage.
Der gemeinsame Gegner gegenüber den Unabhängigkeitsbestrebungen waren die Kolonialherren aus Europa und dem Osmanischen Reich. Der Islam wurde nun von den unterschiedlichen Reformrichtungen als einigende Kraft angesehen, um die Gemeinschaft aller Muslime, der „umma“, wiederherzustellen. Reform hin zu den Basis-Werten des Islam ist damit Vorwärts- und Rückwärtsbewegung zugleich. Dies macht die Beurteilung islamischer Reformbewegungen in der Gegenwart ausgesprochen schwierig. Hier eine grobe Strukturierung:
Panislamismus: AlsGegengewicht zum europäischen und amerikanischen Imperialismus sollen alle Muslime in einem islamischen Staat vereint leben. Auch al-Afghani plädierte in dieser Richtung.
Wahabismus: Eristnach seinem GründerMohammed Ibn Abdel Wahab (etwa 1703 bis 1791) benannt. Er stammte aus der Nähe des heutigen Riad.: Nach seiner Meinung hatte sich der Islam von seinem Ursprung entfernt. Er sah Vielgötterei und Heiligenverehrung als gängige Praxis und forderte von daher nicht nur die Einfachheit eines gläubigen Lebens im Sinne des Propheten Mohammed. Nach erheblichen Rückschlägen gelang es ihm, als Wanderprediger saudische Beduinenstämme für diese Richtung zu gewinnen. Damit begann ein missionarisch geprägter Eroberungsfeldzug. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde der Wahabismus in Saudi-Arabien Staatsreligion.
- Mehr zum Wahabismus und Saudi-Arabien (NZZ 19.12.2015): hier
- Zum sich verschärfenden Konflikt Anfang 2016 zwischen den
saudi-arabischen (sunnitischen) Wahabiten und dem schiitischen Iran
(SZ online vom 04.01.2016)
Muslimbrüder: Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von dem Lehrer Hasan al-Banna in Ägypten gegründet. Sie setzte sich als antikoloniale revolutionäre Bewegung für die Befreiung von der britischen Fremdherrschaft ein – mit dem Ziel, den ursprünglichen Islam wiederherzustellen und eine Errichtung eine islamischen Ordnung im Rahmen der Scharia einzurichten. Die Muslimbruderschaft breitete sich sehr bald besonders nach Syrien und Jordanien aus und gehört zu den wichtigen politische Bewegungen des Islamismus.
Salafiyya:Der Ausdruck Salafiyyaoder Salafismus (von arabisch Salaf = der Vorfahre) bezeichnet Rückbesinnung diejenigen Vorfahren die den „reinen“ Islam praktizierten. Es handelt sich überwiegend um sunnitische fundamentalistische Strömungen, die sich wie auch andere Reformrichtungen u.a. auf Muhammad Abduh, aber ebenso auf Ibn Taimiya berufen (s.Reformen des Islam-Mittelalter}! So wird die gesamte (westliche) Moderne ebenso abgelehnt wie neuere Entwicklungen in der islamischen Theologie. Zugleich wird von den Salafisten die Auslegungsgpraxis in manchen der klassischen Rechtsschulen abgelehnt und ebenso die mystische Richtung des Sufismus.
Liberaler Islam: Neue Impulse innerhalb der von Muslimen geführten Debatte um die rechte Interpretation der Offenbarung und die daraus abzuleitenden gesellschaftlichen Konsequenzen haben sowohl westliche Islam-Theologen als auch sunnitische und schiitische aus der islamischen Welt (z.B. aus Indonesien) vorangetrieben. Zu ihnen zählen z.B. Ulil Abshar-Abdalla, (*1967, Indonesien), Mohamed Arkoun (1928–2010, Frankreich), Soheib Bencheikh (*1961, Frankreich), Abdelmajid Charfi (Tunesien), Farid Esack (* 1959, Südafrika), Mohamed Talbi (*1921, Tunesien) Nasr Hamid Abu Zaid (1943–2010, Ägypten), Fatima Mernissi (*1940, Marokko), Chandra Muzaffar (*1947, Malaysia), Amina Wadud-Muhsin (*1952, USA), Seyyed Hossein Nasr (*1933, USA), Fazlur Rahman (1919-1988, Britisch-Indien, England, USA), Abdul Karim Sorush (*1945, Iran), Mohammed Taha (1909/1911–1985, Sudan) Ömer Özsoy, *1963, Türkei, lebt z.Zt. in Frankfurt/M.) vertreten wurden und werden Dieser mit dem unscharfen Wort bezeichnete „liberale Islam“ beinhaltet bei aller Unterschiedlichkeit folgende Schwerpunkte:
Die Idjtihad (arabisch = Tor der Auslegung) bedeutet die Möglichkeit, den Koran und die Hadithe unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, also im Blick auf die Gegenwart hin zu interpretieren. Damit wird eine vernunftgemäße Textkritik und eine aktualisierende Hermeneutik religiöser und damit auch geoffenbarter Texte möglich. So wird neben der Itjitahddie Fitra (arabisch = der natürliche Sinn) zur Beurteilung wichtig. Die westliche Moderne wird dabei nicht im Sinne eines islamischen Gegenentwurfs gesehen, sondern fordert zu geistiger Begegnung und zu interreligiösem Dialog heraus. Islam und Demokratie sind von daher vereinbar und die Gleichberechtigung der Geschlechter wird ebenfalls aus dem Koran abgeleitet.. Es gibt darüber hinaus größere Variationsmöglichkeiten im rituellen Gebet und der Durchführung religiöser Pflichten.
„Konservative Reform“: Zwischen der fundamentalistischen des Islam und den sog. liberalen Strömungen dürfte Tariq Ramadan (*1962 in Genf, in England lebend), Enkel von Hassan al Banna, anzusiedeln sein, der sich für eine Inkulturation islamischer Werte unter den modernen gesellschaftlichen Bedingungen Europas einsetzt.
4. Weiterführendes Material, Literatur, Internetzugänge
- Vielfalt des Islam - Traditionen und Entwicklungen (Material-Zusammenstellung)
- Les mondes de l'islam -
Die Welten (Denominationen) des Islam (France Culture, 04.01.2016) - Islamische Rechtstraditionen und Scharia
- Der Islam und das Kopftuch
Emel Zeynelabidin: "Musliminnen müssen sich nicht verhüllen"(FAZ online 10.04.2015) - Menschenbild in der Bibel, bei Martin Luther
und im Islam - eine christliche Sicht --- (Textmaterial, Dezember 2015) - Dossier„Reformislam“ in Qantara.de:
http://de.qantara.de/Reformislam/276b97/index.html (abgerufen 14.12.2012) - Maududi und Iqbal im Kontext islamischer Reformbewegungen
des 19. und 20. Jahrhunderts in: Welt ohne Grenzen:
http://www.welt-ohne-grenzen.de/?p=294 (abgerufen, 14.12.2012) - Muslimbruderschaft / Muslimbrüder (Hg. bpb):
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/islam-lexikon/21547/muslimbruderschaft
(abgerufen 14.12.12) - Reformislam (Hg. bpb):
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/islam-lexikon/21634/reformislam - Islamische Rechtstraditionen und Scharia: Textmaterial
- Sunna gegen Schia im Arabischen Frühling
(Le Monde Diplomatique deutsch vom 12.05.2012:
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2012/05/11.mondeText.artikel,a0037.idx,5(abgerufen 14.12.2012) - Sigrid Faath (Hg.): Rivalitäten und Konflikt
zwischen Sunniten und Schiiten in Nahost.
In: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Berlin 2010, 256 S.:
https://dgap.org/de/article/getFullPDF/20223 - Forum für einenfortschrittlichen Islam(Schweiz):
http://www.forum-islam.ch/de/reformbewegungen/index.php
(abgerufen 14.12.2012)
- Dossier„Reformislam“ in Qantara.de:
Literatur
- Charles E. Butterworth (ed.): The Political Aspects of Islamic Philosophy.
Essays in Honor of Muhsin S. Mahdi.
Harvard Middle Eastern Monographs. Harvard University Press 1992 - Ulrich Haarmann (Hg.): Geschichte der arabischen Welt.
München: C.H. Beck 1987 - Heinz Halm: Die Schia. Darmstadt: WBG 1988
- Ermute Heller / Hassouna Mosbahi (Hg.):
Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten, arabischer Denker.
München: C.H. Beck 1998 - Gilles Kepel / Yann Richard (eds.): Intellectuels et militants de l’islam contemporain. Paris: Seuil 1990
- Abdallah Laroui: Islam et modernité. Paris: La Découverte 19
- Abdelwahab Meddeb: Die Krankheit des Islam.
Aus dem Französischen von Beate Thill und Hans Thill.
Heidelberg: Wunderhorn 2000 - Michael Lüders (Hg.): Der Islam im Aufbruch.
Perspektiven der arabischen Welt.
SP 1569. München: Piper 1992 - Tariq Ramadan: Radikale Reform.
Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft.
Aus dem Englischen von Kathrin Möller und Anne Vonderstein.
München: Diederichs 2009 - Reinhard Schulze: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert.
München: C.H. Beck 1994 - Bülent Ucar / Frank Griffel (Hg.):
900 Jahre al-Gazalī im Spiegel der islamischen Wissenschaften.
.Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie
der Universität Osnabrück,
Band 5. Göttingen: V & R 2015, 188 S. - Michel Wieviorka (ed.): L’avenir de l’islam en France et en Europe.
Les entretiens d’Auxerre. Paris: Balland 2003
Reinhard Kirste
Relpäd/Islam/Reformen im Islam-MA-Neuzeit, 14.12.12, bearb. 30.12.2015